Tour de Lorraine 2021 – Tour décolonial – Rassifizierende Praxen in der Sozialen Arbeit

Für die diesjährige Tour de Lorraine hat die Kriso Bern einen Postenlauf erarbeitet. Wir recherchierten, konzipierten und erhielten Hilfe beim Gestalten von fünf Plakaten zum Thema „Rassifizierende Praxen in der Sozialen Arbeit“. Diese sind physisch am 9. Mai 2021 begehbar und können hier auf der Website ebenfalls betrachtet werden.

Am Abend des 9. Mai gibt es noch eine Online-Diskussionsveranstaltung um 20:00.
Unter diesem Link kommst du ab 19:45 rein. Bitte rechtzeitig ein paar min. vorher einchecken. Wir beginnen pünktlich mit der Diskussion.

Das Programm der Tour décolonial findet ihr unter dem folgenden Link:
https://www.tourdelorraine.ch/tdl-21/programm/podium-workshops-lesung/

Im Folgenden sind die Plakate nun auch online verfügbar.

Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International Lizenz.

Die Plakate befinden/befanden sich an folgenden Standorten:

Start (A): Lorrainestrasse 20 (WerkStadt Lorraine)
Posten 1 (B): Lorrainestrasse 15 (Wartsaal)
Posten 2 (C): Nordring 36 (Kiosk Nordring)
Posten 3 (D): Quartierhof 1 (Q-Laden, Quartierhof)
Posten 4 (E): Quartiergasse 31 (Falafingo)
Posten 5 (F): Quartiergasse 17 (Brasserie)

Text zu Posten 0:

Die Kriso Bern hat die diesjährige Tour de Lorraine mit dem Titel «TOUR DÉCOLONIAL» zum Anlass genommen, rassifizierende Praktiken in der So-zialen Arbeit aufzuarbeiten. In unseren Recherchen sind wir auf Praktiken gestossen, die in der Sozialen Arbeit tief verankert sind. Die Praktiken sind fester Bestandteil der Geschichte Sozialer Arbeit und werden teilweise auch heute weiter ausgeübt.

Mittels verschiedener Plakate, wollen wir einige der Beispiele, auf die wir in der Recherche gestossen sind, mit euch teilen. Diese Aufarbeitung soll dazu dienen, aktuelle Tendenzen zu entlarven und eine Grundlage für deren Bekämpfung zu schaffen.

Wie‘s funktioniert: Insgesamt werden 5 Themen zum Thema Rassismus in der Sozialen Arbeit behandelt. Durch einen Postenlauf könnt ihr euch den einzelnen Themen annehmen. Eine offene Frage am Ende des Plakats soll euch zu weiterem Denken anregen. Auf jedem Plakat befindet sich unten Rechts eine Karte, wo die einzelnen Standorte vermerkt sind. Zudem ist unten Rechts jeweils ein QR Code, wo ihr den jeweiligen Text sowie weitere Informationen zum Thema findet.

Als kritische Sozialarbeiter*innen verurteilen wir jegliche Form solcher Praktiken und setzen uns für eine kritische Soziale Arbeit ein, die ihre alltägliche Praxis im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Verteilkämpfe kritisch betrachtet. Der Rassismus ist im Kontext eben dieser Verteilkämpfe ein wichtiges Mittel des Kapitalismus, mit dem Ungleichheiten, die einer Profitmaximierung dienen, legitimiert werden. Die Soziale Arbeit wird dabei nicht selten als Handlangerin der neoliberalen Politik instrumentalisiert, um genau jene rassifizierenden Praxen zum Zwecke der Profitmaximierung auszuführen. Wir setzen uns für eine emanzipatorische Praxis ein, die sich an Solidarität orientiert und die individuelle und kollektive Mündigkeit zum Ziel hat! Dieser Auftrag wird bei den beschriebenen historischen, wie aktuellen Beispielen verfehlt.

Text zu Posten 1: Sozialhilfekürzungen im Asyl- und Flüchtlingsbereich

Im Kanton Bern erhält eine sozialhilfebeziehende Person für den Grundbedarf 977.- Franken pro Monat. Damit muss sie sich Lebensmittel, Kleidung, Transport, Kommunikation sowie Freizeit finanzieren können. Der Grundbedarf soll damit per Definition nach den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) ein ‘soziales Existenzminimum’ und damit eine minimale Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben gewährleisten, so dass ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Doch bereits hier stellt sich die Frage, ob die Sozialhilfe als Instrument zur Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung dem Ziel der Förderung der ‘wirtschaftlichen’ und ‘persönlichen’ Selbstständigkeit gerecht werden kann. Dieser Grundbedarf wird nun im Kanton Bern durch eine Verordnung über die Sozialhilfe im Asyl- und Flüchtlingsbereich für ‘Vorläufig Aufgenommenen Flüchtlingen’ ab dem achten Jahr ohne Erwerbstätigkeit auf 696.- Franken pro Monat gekürzt!

Mit diesen Kürzungen missachtet Alain Schnegg, damaliger Fürsorgedirektor des Kanton Bern und Initiant der Verordnung, die Ergebnisse der Abstimmungen vom 19. Mai 2019. Es scheint, als würde er das, was bei der Abstimmung zu den Sozialhilfekürzungen in Bern abgelehnt wurde, im Asyl- und Flüchtlingsbereich neu versuchen. Schnegg beschrieb damals die Massnahme als Motivation, um die «Arbeit attraktiver zu machen und die berufliche Integration von Menschen in der Sozialhilfe zu fördern» (zit. nach swissinfo, 2019). Dieses Anreizsystem ist tief von Zynismus durchdrungen. So kann sich zusätzlicher Druck in Form von Sozialhilfekürzungen auf Menschen in prekären Situationen, wie dies im Asyl- und Flüchtlingsbereich stärker zum Ausdruck kommt, zusätzlich negativ auf die psychische Gesundheit und damit kontraproduktiv, u.a. auf den gesellschaftlichen Integrationsprozess auswirken.

Verschärfungen in der Sozialhilfe treffen dabei auffällig oft Migrant*innen ohne Schweizer Pass. So wird von ihnen stetig eine soziale und wirtschaftliche Teilhabe und Integration gefordert und erwartet, währenddem ihnen im gleichen Atemzug keinerlei Mittel und Ressourcen dazu zur Verfügung gestellt oder diese stetig abgebaut werden. Diese durch die Herkunft begründeten Ungleichheiten manifestieren sich in Gesetzen, Strukturen, Rollen, Normen und sozialen Positionen des Gesellschaftssystems, womit die Monopolisierung grundlegender und knapper Ressourcen entlang einer rassistischen Trennungslinie legitimiert werden. Solche Kürzungen sind damit Ausdruck rassistischer Kategorisierungen, welche sich institutionell sowie strukturell etabliert haben. Die Soziale Arbeit muss sich kritisch mit Rassismus auseinandersetzen, damit sie diesen nicht reproduziert und rassistische Strukturen nachhaltig bekämpfen kann!

Reflexionsfrage:
– Wie erklärst du dir das, dass für ‘Vorläufig Aufgenommene Flüchtlinge’ ein anderer Grundbedarf als für einheimische sozialhilfebeziehende Personen besteht?

Quellen:
https://www.derbund.ch/bern/heftige-kritik-an-schneggs-sparplaenen-bei-sozialhilfe-fuer-fluechtlinge/story/24637072

https://www.derbund.ch/bern/schnegg-will-fluechtlingen-die-sozialhilfe-kuerzen/story/20093357

Sozialhilfe für Flüchtlinge – Der Kanton Bern kürzt weniger als geplant | Der Bund

Berner Konferenz für Sozialhilfe (&KES): http://handbuch.bernerkonferenz.ch/stichwoerter/stichwort/detail/grundbedarf-fuer-den-lebensunterhalt-gbl/

https://www.swissinfo.ch/ger/kantonale-abstimmung-vom-19–mai_bern-entscheidet-ueber-kuerzung-der-sozialhilfe/44946408

Text zu Posten 2: Zwangsadoptionen von jenischen Kindern

Soziale Arbeit und die Zwangsadoption von 619 jenischen Kindern

1926 gründete die Stiftung Pro Juventute das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», welches bis 1973 bestand. Damit sollte den «misslichen Verhältnissen» entgegengewirkt werden, in welchen sich die Kinder aus Familien von Fahrenden, insbesondere Jenischen, angeblichen befanden. Aus Berichten von Betroffenen geht hervor, dass manche der Kindswegnahmen aus berechtigten Gründen wie die fehlende Übernahme von elterlicher Sorge geschahen. Das zugrundeliegende Motiv war aber vielmehr die Abwertung des Lebensstils der Fahrenden. Sie sollten zur Sesshaftigkeit erzogen – oder vielmehr gezwungen – werden, damit sie sich nicht mehr der behördlichen Kontrolle entziehen konnten. Zudem wurden sie als «Gauner*innen» oder «Vagant*innen» diffamiert, ihnen wurde «Trunksucht» oder «Faulheit» zugeschrieben und ihr Erbgut wurde als «entartet» oder «minderwertig» angesehen. Die  Kinder sollten demnach von den schädlichen Einflüssen der jenischen Gemeinschaft gerettet und in einer Schweizer Familie zu arbeitsamen Mitgliedern der Gesellschaft erzogen werden.

Die Fremdplatzierungen sowie deren Umsetzung war aus heutiger Sicht menschenunwürdig. Damit sich die «schlechten Gene» nicht durchsetzen könnten, wurden die Kinder vollständig von den Eltern getrennt und teilweise dutzende Male umplatziert, wenn diese sie ausfindig gemacht haben. Auch Geschwister wurden voneinander getrennt. Zudem bekamen viele der Kinder einen neuen Namen, was ihnen einen weiteren Teil ihrer Identität raubte. Obwohl das «Hilfswerk» aus der Gesellschaft viel Zuspruch bekommen hat, wurden nicht genügend Pflegefamilien gefunden. So kamen viele der Kinder in Heime, Erziehungsanstalten oder wurden verdingt, um in Landwirtschaftsbetrieben zu arbeiten. Viele der Kinder erlebten körperliche Gewalt und sexuelle Ausbeutung. Das «Hilfswerk» von Pro Juventute arbeitete unter anderem mit dem «Seraphischen Liebeswerk» zusammen. Die Organisation der katholischen Kirche stellt bis heute Betreuungsplätze für Kinder zur Verfügung und nahm viele Platzierungen des «Hilfswerks» an.

Etiketten für die «Anderen»:

Heutzutage wird der Begriff «Volk» oft mit «Nationalstaat» gleichgesetzt. Durch die Kolonialisierung leben mittlerweile auch die meisten Völker in einem Staat; egal ob sie nun Teil dessen Machtstrukturen sind oder nur «zufälligerweise» auf dem definierten Staatsgebiet leben. Aus dieser Perspektive sind die Fahrenden ein Volk in der Schweiz und sind auch als offizielle Minderheit anerkannt. Es gibt verschiedene Gruppen unter den Fahrenden, welche insbesondere durch sprachliche Unterschiede ausgemacht werden können und wohl auch unterschiedliche historische Herkünfte haben. Die grösste Gruppe in der Schweiz bezeichnet sich selbst als «Jenische»; zugleich ist dies auch die Bezeichnung ihrer Sprache. «Roma*romnia» ist die Selbstbezeichnung eines anderen Stammes von Fahrenden. Der Begriff bedeutet in der Sprache «Romanes», die von indischen Nomaden gesprochen wurde, «Mensch». Somit kann dieser Ausdruck sowohl für fahrende Menschen, wie auch für Angehörige der bestimmten Gruppe verwendet werden. Andere Begriffe, welche teilweise bis heute verwendet werden, sind Fremdzuschreibungen und somit abwertend.

Bildunterschrift: Alfred Siegfried mit einigen jenischen Mündeln. Siegfried gilt als Gründer des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» und übernahm auch die meisten Vormundschaften der Zwangsadoptierten Kinder bis 1961. Pikant dabei ist, dass er bereits davor als Lehrer entlassen wurde, weil er wegen «unzüchtigen Handlungen» mit einem Schüler verurteilt wurde. Sein Nachfolger, Peter Doebeli, wurde 1963 wegen «unzüchtigen Handlungen» und «Unzucht» mit mehreren Mündeln von Pro Juventute verurteilt. Danach gingen die Vormundschaften an Clara Reust, welche davor beim Seraphischen Liebeswerk gearbeitet hatte.

Bildquelle: Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende. (n.d.). Das Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse. Abgerufen von https://www.stiftung-fahrende.ch/

Prozesse der Aufarbeitung

In den 1970er Jahren wandelte sich der öffentliche Zuspruch in Empörung über die Zwangsadoptionen. Aus diesem Druck wurde das «Hilfswerk» von Pro Juventute schliesslich aufgelöst und es wurde ein langsamer Prozess zur Aufarbeitung der Geschehnisse angestossen. Ab 1988 erhielten die Opfer dieser Zwangsmassnahmen eine Entschädigung von CHF 2’000.- bis 20’000.- Die beiden erwähnten Institutionen stehen diesem Aufarbeitungsprozess gänzlich unterschiedlich gegenüber. Pro Juventute auf der einen Seite finanziert bis heute die Stiftung «Naschet Jenische» mit und stellt sich klar gegen die Diskriminierungen von Minderheiten und für die Rechte der Kinder. In den Jahren 1982 und 1998 entschuldigten sich Vertreter*innen der Institution in deren Namen bei allen Betroffenen. Dies hat das Seraphische Liebeswerk bis heute nicht gemacht. Sie vertreten die Position, dass alle Beteiligten im Rahmen des geltenden Rechts gehandelt haben und sie nur ein Rädchen in der Platzierungsmaschinerie gewesen sind. Zudem dürfe die Vergangenheit nicht zu sehr mit heutigen Wertmassstäben betrachtet werden.

Diese rassifizierenden Praxen sind leider ein zentraler Bestandteil der Geschichte der Sozialen Arbeit. Die beiden Institutionen, welche hier erwähnt wurden, sind dafür nur zwei Beispiele von vielen. Diese Geschichte gilt es aufzuarbeiten und hilft dabei, ähnliche, aktuelle Tendenzen zu entlarven.

Was denkst du darüber?

  • Welchen Auftrag im Aufarbeitungsprozess haben Institutionen der Sozialen Arbeit?
  • Welche Parallelen können zur heutigen Praxis der Sozialen Arbeit gezogen werden? Inwiefern gleichen oder unterscheiden sie sich zu damals?
  • Wie können Taten, welche früher gesetzlich legal waren, aus heutiger Sicht bewertet werden?

Quellen:

Huonker, Thomas. (1990). Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt. Jenische Lebensläufe. Abgerufen von https://thata.ch

Pro Juventute (n.d.). Geschichte [Website]. Abgerufen von https://www.projuventute.ch/de/stiftung/wer-wir-sind/geschichte

Referat von Dr. Thomas Huonker am 07. September 2020, Berner Fachhochschule

Text zu Posten 3: Der Kulturbegriff

In der Ausbildung von zukünftigen Sozialarbeiter*innen wird vermittelt, dass das vertretene Menschenbild in Kontexten der Sozialen Arbeit immer Einfluss auf das professionelle Handeln hat. Es wird viel Zeit geopfert, damit sich die angehenden Fachpersonen in der Ausbildung bewusst mit dem eigenen Menschenbild auseinandersetzen können und dieses reflektieren lernen.

Während viele Stunden in diese wertvolle Arbeit investiert werden, bleiben andere, ebenso wichtige Themen, oft auf der Strecke. Eines davon ist die fundierte Auseinandersetzung und Reflexion des eigenen Kulturbildes. Wie das Menschenbild beeinflusst nämlich auch das internalisierte Kulturbild das Handeln von angehenden Sozialarbeiter*Innen. Wie die Beispiele eindrücklich zeigen, wird in der Praxis der Sozialen Arbeit oft das Kulturbild vertreten, dass unter anderem muslimische Frauen immer unterdrückt werden, dass alle Schwarzen Jugendlichen gerne Hip Hop mögen, dass Sauberkeit wichtiger ist als die Inklusion von Menschen und dass Menschen mit Migrationsvordergrund oft unpünktlich sind. Diese Tatsachen zeigen, wie wichtig es ist, dass nicht nur das Menschenbild, sondern auch das Kulturbild immer wieder kritisch hinterfragt werden müssen.

Aussagen wie «Hie macht mes haut so» repräsentieren in anderen Worten die Normen und Werte einer Gesellschaft. Es wird als Totschlagargument und Erklärungsprinzip verwendet, um die eigene Sozialisierung und Normierung innerhalb einer Gesellschaft einzuordnen oder gar zu rechtfertigen. Nach unserer Meinung wird dabei der Kulturbegriff oft missbräuchlich verwendet. Was gilt als «normal» und was nicht? Unsere Vorstellungen von Kultur und der Normalität dienen keineswegs dazu, unsere Realität wiederzugeben. Vielmehr wird versucht, Menschen mit anderen Merkmalen auszustatten. Sie werden dadurch als «fremd» gekennzeichnet und der eigenen «Kultur» nicht zugehörig eingestuft. Sie werden zum «Anderen», zur «fremden Welt» erklärt und gleichzeitig wird die eigene Welt als die «Normale» eingestuft.

Dabei wird der Kulturbegriff oft als negative Eigenschaft gegenüber «dem Anderen» verwendet, ohne dabei das eigene Heranwachsen, die eigene Sozialisation zu hinterfragen. Was bedeutet es überhaupt, dass wir es hier «so» machen und andere nicht? Was ist überhaupt Kultur? Der Kulturbegriff darf in seiner Komplexität nicht auf eine plumpe Aussage wie «Hier macht mes haut eso» reduziert werden. Ausdrücke wie «Hie macht mes haut eso» können durch die Erklärung der eigenen Welt als «normal» und der anderen als «abnormal» rassistische Komponenten aufweisen. Wer andere zu einer «fremden Welt» erklärt und diese zugleich entwertet, verwendet den Kulturbegriff missbräuchlich und setzt diesen damit rassifizierend ein. Diese rassistische Praxis ist ebenfalls in der Sozialen Arbeit vertreten.

Reflexionsfrage:
– Was ist «Schweizer Kultur»?

Hinweis zu einer Folgeveranstaltung:

#DefundORS

Online- Veranstaltung zu den Folgen der Ökonomisierung im Asylwesen am Beispiel der ORS Service AG – Ein kritischer Blick aus Sicht der Sozialen Arbeit, ehemaligen Mitarbeitenden und Aktivist*innen.

M i t t w o c h  1 9 .  M a i  2 0 2 1 / 1 9 : 3 0 U h r

Link zur Teilnahme: https://bbb.ch-open.ch/b/thi-jev-3tf

Text zu Posten 4: Ökonomisierung der Sozialen Arbeit im Asylbereich

Rassismus als gesellschaftliche Konstruktion strukturiert unser soziales Zusammenleben und ist tief in unserer Gesellschaft verankert. Als gesellschaftliches Macht- und Ungleichheitsverhältnis produziert er machtvolle Diskurse, Praktiken der Unterscheidung sowie Kategorisierung von Menschen. So wird er als Marker der Differenz zu einem wichtigen Mittel des Kapitalismus, welcher Ungleichheiten zum Zweck der Profitmaximierung legitimierbar macht. So auch im Asylwesen!

Die aktuellen Entwicklungen im Bereich der Arbeit mit geflüchteten Menschen sind alarmierend. Denn die Auslagerung staatlicher Aufgaben hat sich im Asylwesen seit längerem etabliert. Übernommen werden die Aufgaben teilweise von profitorientierten Organisationen. Diese Organisationen übernehmen im Auftrag von Bund, Kantonen und Gemeinden unter anderem die Betreuung und Unterbringung von Geflüchteten und führen die Aufträge gewinnbringend aus, wodurch Not und Leid zur Kapitalanlage werden. Der Gesetzliche Rahmen in unserem bürgerlichen Staat verhindert ohnehin schon, dass der Auftrag so ausgeführt werden kann, dass ausreichend auf die Bedürfnisse geflüchteter, oft traumatisierter Menschen eingegangen werden kann. Sich in diesem Feld zusätzlich unter einem Profitzwang zu bewegen, führt zu einer Verschärfung der Problematik.

Die Abschöpfung von Gewinnen fordert dementsprechend, dass in Bereichen gespart werden muss, die fatale Folgen für die Bewohner*innen der Asylzentren haben. So berichten Betroffene von menschenunwürdigen Lebensbedingungen, denen sie tagtäglich schutzlos ausgeliefert sind: In vielen Zentren kann die Infrastruktur nicht gewährleistet werden, wodurch den Bewohner*innen beispielsweise über mehrere Tage kein warmes Duschwasser oder Strom zur Verfügung gestellt werden kann. Auch wird von mangelnder Hygiene durch nicht funktionstüchtige Sanitäranlagen sowie eine nicht ausreichende medizinische Versorgung berichtet.

Dadurch, dass beim Personal gespart wird, werden in Stellenausschreibungen für die Betreuung in Asylunterkünften Personen ohne angemessene Qualifikation gesucht. Hinzu kommt, dass diese anspruchsvollen Aufgaben mit einem knappen Personalschlüssel erfüllt werden müssen. Mit diesem Lohndumping verschaffen sich die profitorientierten Firmen enorme Vorteile bei der Vergabe millionenschwerer Betreuungsmandate. Es ist daher nicht verwunderlich, dass immer wieder Berichte über fachlich nicht legitimierbare Methoden wie, stete Sanktionierung oder fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten, weder für Erwachsene noch für Kinder, an die Öffentlichkeit gelangen. Zudem berichten Bewohner*innen über massive rassistische, psychische und physische Gewalt durch das Sicherheitspersonal der ebenfalls privatgeführten und öffentlich beauftragten Sicherheitsfirmen. Dieses strenge Regime verletzt tagtäglich die Integrität dieser Menschen und damit die Menschenrechte – dies muss sich im Sinne einer menschenwürdigen Sozialen Arbeit ändern!

Reflexionsfrage: Weshalb denkst du, dass solche Bedingungen für geflüchtete Menschen gelten dürfen? Und meinst du, dass diese Bedingungen auch für Schweizer*innen toleriert werden würden?

Quellen:

Offener Brief an die ORS – KRISO

Nach Reklamationen in Aarwangen – Die ORS soll Rückkehrzentren abgeben | Berner Zeitung

«Zustände inakzeptabel» – Petition gegen ORS als Betreiberin der Rückkehrzentren | Berner Zeitung

«Rückkehrzentren sind offene Gefängnisse am Rande der Gesellschaft» | Bieler Tagblatt (alle-menschen.ch)

Posten 5: Koloniales Erziehungsverständnis

1. Eurozentrismus
Der globale Norden orientiert sich an einem Fortschrittsgedanken, der von den Denkern der Aufklärung geprägt wurde. Die Zeit der Aufklärung hat unsere Überzeugungen in   Wissenschaft, Bildung, Kultur oder auch Erziehung umfassend geprägt. Eurozentrisch meint hier, dass die Welt aus der Sicht von Europa betrachtet und bewertet wird. Die Aufklärung hat den Gedanken der Gleichheit aller Menschen hervorgebracht. Gleichzeitig haben männliche Wissenschaftler und Philosophen den meisten Menschen diese Gleichheit wieder abgesprochen und nur für Menschen wie sie selbst, dass heisst für weisse, gebildete Männer, geltend gemacht. Zu diesem Zweck haben sie auch das Denken in Kategorien aus dem Tierreich auf Menschen übertragen und den Rassismus wissenschaftlich „begründet“. Diese eurozentristische Weltsicht in Bezug auf eine umfassende Geschichte der Menschheit herrscht im historischen Materialismus (marxistische/ linke Weltsicht) ebenfalls vor.

2. Menschen in Kategorien
Bei der Einteilung von Menschen in Kategorien, Stufen, sozialen Klassen usw. wurden in Europa explizit rassistische Vergleiche benutzt. Menschen mit dem Lebensmittelpunkt auf der Strasse, Fahrende oder Gelegenheitsarbeiter*innen wurden rassistisch etikettiert und mit Menschen in Afrika, Asien oder den Amerikas gleichgesetzt.
In der Sozialen Arbeit werden noch heute Menschen unterschiedlich kategorisiert und entsprechend behandelt oder bestimmten Interventionen ausgesetzt. Seit den 1990er Jahren werden wieder verstärkt Arbeitslose als „antriebslos“ stigmatisiert.

3. Parallelen von Erziehungs- und Herrschaftstechniken
Der Franziskaner Bernardino de Sahagún realisierte im 16. Jahrhundert bei seiner Mission im heutigen Mexico, dass er sich eingehender mit den Themen Erziehung, Regierung und Schulbildung befassen musste, um mit der Beherrschung der lokalen Bevölkerung erfolgreich sein zu können. Er unterschied mehrere Altersgruppen nach Erziehungsthemen und übernahm teilweise Inhalte und Themen, die von der lokalen Bevölkerung (Nahua) von Eltern an Kinder vermittelt wurden. Seine Herangehensweise wird von Susanne Spieker als ein früher Vorläufer der Bildungsforschung beschrieben. In dieser kolonialen Weise, die Bevölkerung in den Amerikas (v.a. heutiges Lateinamerika) durch verschiedene Techniken zu beherrschen, können aus unserer Sicht Formen der Beeinflussung, ähnlich denen von (Sozial-)Pädagogik und Sozialarbeit, erkannt werden.

4. Linguizismus und Monolingualität
Die Sprache ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, sondern auch Mittel zur Herstellung von Differenzen. Diese Funktionalisierung knüpft an koloniale Denktraditionen an. In diesem Denksystem wurden nicht nur äusserliche Merkmale, sondern auch sprachliche Unterschiede herangezogen, um Über- und Unterlegenheit zu legitimieren. In pädagogischen Diskursen und Kontexten sind koloniale Denktraditionen oft weiterhin wirksam. Dies gilt somit auch für linguizistische bzw. monolinguale Praktiken, welche Zugehörigkeiten schaffen und Ein- und Ausschlüsse produzieren. Linguizismus bezeichnet Vorurteile oder eine nicht sachlich begründete Ablehnung gegenüber Sprachen und ihren Sprechenden.

Der monolinguale Habitus sieht die Fremdsprachigkeit im Zusammenhang mit der Zuwanderung als Problem und nicht als Chance. Auf solch einen Habitus ausgerichtete Bildungspolitik schränkt den Erwerb und die Förderung von Sprachvarietäten ein und trägt dazu bei, dass mehrsprachige Menschen von ihrer Familiensprache entfremdet werden.

In der Linguizismuskritik, (eine Form der Rassismuskritik) wird bezüglich der postkolonialen Zeit thematisiert, inwiefern die koloniale Denktradition Unterschiede zwischen Sprachen, Dialekten, Soziolekten, Akzenten und anderen sprachlichen Merkmalen Menschen kategorisiert, voneinander hierarchisiert und bei der Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen hindert.

Quellen:

1. Eurozentrismus:
Melter, Claus (2018). Soziale Arbeit zwischen zuschreibenden Kulturalisierungen und einer diskriminierungs- und rassismuskritischen Migrationspädagogik sowie der Orientierung an der Integrität jedes Menschen. In: Prasad, Nivedita (Hg.). Soziale Arbeit mit Geflüchteten. Rassismuskritisch, professionell, menschenrechtsorientiert. Opladen und Toronto: Verlag Barbara Budrich. 221-246.

Ogette, Tupoka (2019). exit Racism. Rassismuskritisch denken lernen. Münster: UNRAST Verlag.

Brumlik, Micha (2014). Normative Grundlagen der Rassismuskritik. In: Borden, Anne; Mecheril, Paul (Hg.). Solidarität in der Migrationsgesellschaft. Befragung einer normativen Grundlage. Bielefeld: transcript Verlag. 23-36.)
2. Menschen in Kategorien:
Mayhew, Henry (1851). London Labour and the London Poor, zit. nach: Radakrishna, Meena (2008). Dishonoured by History: „Criminal Tribes“ and British Colonial Policy. New Delhi: Orient Blackswan.

Radakrishna, Meena (2008). Laws of Metamorphosis: From Nomad to Offender. In: Kannabiran, Kalpana; Singh, Ranbir (Hg.). Challenging The Rule(s) of Law. Colonialism, Criminology and Human Rights in India. Los Angeles : SAGE Publications.

Wyss, Kurt (2007). Workfare. Sozialstaatliche Repression im Dienst des globalisierten Kapitalismus. Zürich: Edition 8.
3. Erziehung/Herrschaft:
Spieker, Susanne (2015). Die Entstehung des modernen Erziehungsdenkens aus der europäischen Expansion. Frankfurt am Main: Edition Peter Lang.
4. Linguizismus:
Dirim, Inci (2010). Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute auch, dass man mit Akzent denkt oder so. Zur Frage des (Neo-)Linguizismus in den Diskursen über die Sprache(n) der Migrationsgesellschaft. In: Mecheril, Paul; Dirim, Inci; Gomoll, Mechtild; Hornberg, Sabine & Stojanov, Krassimir (Hrsg.), Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung. Münster, München: Waxmann. 92– 112.

Dirim, Inci (2016). Perspektiven einer linguizismuskritischen
pädagogischen Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern. In;Hummrich, Merle; Pfaff, Nicolle; Dirim, Inci; Freitag, Christine (Hrsg.), Kulturen der Bildung. Kritische Perspektiven auf erziehungswissenschaftliche Verhältnisbestimmungen. Wiesbaden: Springer. 198-199.

Brizić, Katharina (2008). Familiensprache als Kapital. In: Plutzar, Verena (Hrsg.), Nachhaltige Sprachförderung. Zur veränderten Aufgabe des Bildungswesens in einer Zuwanderergesellschaft (1. Aufl.).Innsbruck: Studien Verlag. 136–151. Brizić, Katharina (2009). Ressource Familiensprache. Eine soziolinguistische Untersuchung zum Bildungserfolg in der Migration. In: Schramm, Karen &Schroeder, Christoph (Hrsg.), Empirische Zugänge zu Sprachförderung und Spracherwerb in Deutsch als Zweitsprache. Münster: Waxmann. 23–42.

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