Freiwilligenarbeit ist politisch!

Positionspapier zu freiwilligem Engagement im Asylbereich

Die AG Migration hat sich mit dem Thema Freiwilligenarbeit befasst und einen Text sowie einen Flyer verfasst, der gerne verteilt werden kann.

Seit 2015 gilt das Bild des “überforderten Staates“ durch die starke Zuwanderung in die Schweiz als weitverbreitete Erklärung und Legitimation für die prekären Bedingungen im Asyl- und Migrationswesen. Es war damals von einem „Ausnahmezustand“ die Rede, doch dadurch blieb die Frage nach den Gründen der Überlastung staatlicher Strukturen ungestellt. Diese Ausrede verschleiert weitestgehend dahinterstehende politische und ökonomische Ursachen. Denn wie die heutige aktuelle Situation zeigt, sind trotz rückläufigen Asylgesuchen die Zustände keineswegs besser geworden. Es führt also nicht eine „Ausnahmesituation“ zu diesen prekären Zuständen, sondern die neoliberale Sparpolitik der Bürgerlichen und der damit verbundene Abbau sozialstaatlicher Leistungen. Dabei nahm der Staat die Unterstützung aller Freiwilligen dankbar und alternativlos an. Dies zeigt sich aktuell auch bei der Integrationsagenda des Bundes; für deren Umsetzung setzt beispielsweise der Kanton Zürich konzeptionell, gezielt auf Freiwilligenarbeit. Diese anhaltenden Entwicklungen nahm die AG Migration der Kriso nun als Anlass, um über institutionalisierte Freiwilligenarbeit nachzudenken und der Frage nachzugehen, was Freiwilligenarbeit über die staatlichen Institutionen und das politische Klima in der Schweiz aussagt und was dies für die Soziale Arbeit bedeutet?

Auf diese Fragen versuchen wir mittels diesem Positionspapier Antworten zu finden und wollen insbesondere Freiwillige, Sozialarbeitende, die mit Freiwilligen arbeiten und NGOs zu einer kritischen Reflexion anregen.

Was ist mit institutionalisierter Freiwilligenarbeit gemeint?

Freiwilligenarbeit kann grundsätzlich als Tätigkeit verstanden werden, die nicht entlohnt wird, theoretisch jedoch durch eine Drittperson gegen Bezahlung ausgeführt werden könnte. Wir sprechen daher von institutionalisierter Freiwilligenarbeit in Abgrenzung zu informeller Freiwilligenarbeit (persönliche Hilfeleistungen für Bekannte, Freunde und Verwandte) und unbezahlter Care-Arbeit (Haus- und Familienarbeit). Die institutionalisierte Freiwilligenarbeit setzt einen organisatorischen Rahmen und eine vorgegebene Struktur voraus. Institutionalisierte Freiwilligenarbeit kann zum einen in Hilfs- oder Menschenrechtsorganisationen getätigt werden oder in Basisorganisationen, die meist allein durch Freiwilligenarbeit getragen werden, ohne staatliche Unterstützung. Ziele und Inhalte der Freiwilligenarbeit können je nach Organisation und Tätigkeiten stark variieren.

Wie zeigt sich institutionalisierte Freiwilligenarbeit im Migrationsbereich?

Als Folge politischer Entwicklungen der letzten 40 Jahre fehlte es im Migrationsbereich an staatlichen Strukturen, um Menschen ein würdevolles Leben unter Einhaltung von Menschenrechten wie Privatsphäre, Partizipation, physische und psychische Integrität zu ermöglichen. Unhaltbare Zustände in Kollektivunterkünften, langwierige und belastende Bürokratie, strukturelle Ausgrenzung und wenig bis keine Zugänge zu politischer und sozialer Teilhabe, lösen in vielen Menschen das Bedürfnis aus, etwas «dagegen» zu tun. Entsprechend sehen sich viele Freiwillige gezwungen sich zu organisieren und übernehmen staatliche Aufgaben innerhalb des Migrationsbereichs. Die Basisorganisationen übernehmen eine zentrale Rolle in der Geltendmachung der Rechte von geflüchteten Menschen (so beispielsweise >Freiplatzaktion, >wo unrecht zu recht wird,). Dies wird allerdings häufig alleinig durch Freiwillige getragen. Die Stabilität der Angebote ist folglich abhängig von einzelnen Aktiven sowie der Stimmung innerhalb der Gesellschaft, was wiederum politisch sowie medial beeinflusst wird. Die fehlende Unterstützung des Staates führt dazu, dass finanzielle Ressourcen sowie auch der Beistand durch Professionelle fehlen.

Diese politische Entwicklung ist extrem problematisch, da dringliche Aufgaben von Freiwilligen übernommen werden. Dies führt dann zu einer Eigendynamik: Je mehr Freiwillige sich engagieren, desto mehr kann der Staat sich aus der Verantwortung ziehen. Werden diese Aufgaben allerdings nicht von Freiwilligen übernommen, bleibt diese Ungerechtigkeiten bestehen und ungesehen.

Was bedeutet dies für die Soziale Arbeit und wie kann eine kritische Soziale Arbeit darauf reagieren?

Die Auswirkungen sind vielseitig und weitreichend, wenn sozialstaatliche Aufgaben von Freiwilligen ausgeführt werden statt von Sozialarbeitenden.

Freiwilligenarbeit im Asylbereich braucht es jedoch unter den heutigen Umständen durchaus. Denn der öffentliche Auftrag für die Sozialen Arbeit fehlt häufig, ist unzureichend und/oder hat vorwiegend einen verwaltenden und kontrollierenden Charakter.

Freiwillige hingegen können eher anwaltschaftlich für Adressat*innen tätig sein und unbürokratische Soforthilfe ermöglichen. Langfristig ist es jedoch erstrebenswert, wenn Soziale Arbeit diese anwaltschaftliche Tätigkeit übernehmen kann mit dem Wissen um Machtdynamiken, Prozessgestaltung, Beziehungsarbeit und möglicher Triage.

Wie eingangs beschrieben, werden solche gesellschaftlichen Momente häufig als «Ausnahmezustand» benannt und eingeordnet. Für eine kritische Soziale Arbeit ist es jedoch zentral gerade solche «Ausnahmesituationen» in einen politischen Kontext einzuordnen und strukturelle Faktoren zu erkennen.

Eine weitere Folge zeigt sich, wenn wir den Blick auf sozialstaatliche Angebote für abgewiesene Asylsuchende richten. Dort wird ersichtlich, dass kaum Angebote für diese Gruppe vorhanden sind. Entsprechend verfügt die Soziale Arbeit, mit wenigen Ausnahmen, über kein staatliches Mandat zur Unterstützung abgewiesener Asylsuchenden. Durch die wachsenden Missstände haben sich insbesondere seit 2008 entsprechend viele Freiwilligengruppen gebildet. Eine darauffolgende Entwicklung, die kritisch auffällt, ist, dass staatliche und privatwirtschaftliche Akteur*innen, explizit an Freiwilligenprojekte verweisen. Der Staat profitiert also direkt von Freiwilligenarbeit und nimmt es dankend an. Dieses Engagement wird durch den Staat jedoch nur toleriert, solange es keinen politischen Charakter hat und vorliegende Macht- und Herrschaftsverhältnisse nicht in Frage gestellt werden.

In der direkten Arbeit mit Freiwilligen scheint es uns enorm wichtig, unabhängig ob dies in institutionalisierter oder informeller Arbeit geschieht, sensibilisiert auf mögliche Machtdynamiken zwischen Freiwilligen und Geflüchteten zu sein. Basierend auf fehlenden materiellen Ressourcen, sprachliche Herausforderungen und strukturelle Benachteiligung kann es Ungleichgewichte geben, welche häufig ein Bild von Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit generieren. Daraus entstehende Machtasymmetrien müssen unbedingt wahrgenommen und reflektiert werden. Werden solche Themen nicht in die Arbeit miteingebunden, können koloniale Stereotypen reproduziert werden. Zudem ist auch die persönliche Auseinandersetzung der Freiwilligen für ihre Motivation notwendig. Gerade wenn paternalistisches Engagement als Motivation im Vordergrund steht, erachten wir dies als besonders problematisch. Ebenso kritisch zu betrachten ist, wenn religiöse Werte Einfluss auf die Arbeit nehmen, welche der sozialarbeiterischen Haltung widersprechen.  Eine regelmässige Reflexion innerhalb der Freiwilligenarbeit aller Beteiligten messen wir daher eine enorme Wichtigkeit bei. Diese Überlegungen und der Austausch braucht es, um Spannungsverhältnisse auf unterschiedlichen Ebenen zu identifizieren und öffentlich zu thematisieren.

Die Kriso hat dazu einen Flyer mit Denkanstössen für Freiwillige im Migrationsbereich gestaltet.