Habermas in Bezug zur Sozialen Arbeit

Habermas, Jürgen (1969). Technik und Wissenschaft als >Ideologie<. Suhrkamp: Frankfurt am Main.

Kapitel: Erkenntnis und Interesse (S. 146-168)

 

Habermas in Bezug zur Sozialen Arbeit

Rekonstruktion des Begriffs Theorie

Ein theoretisches Studium macht Menschen mit Ideen vertraut und „nur Ideen geben dem Handeln Nachdruck und sittliche Bedeutung“ (Schelling, 1802, zit. in Habermas 1969, S. 146). Wie weit nimmt diese gegenseitige Verwiesenheit in der Praxis der Sozialen Arbeit diesen Stellenwert ein? Werden nicht Praxis und Theorie oft entgegengesetzt verstanden, oder als zwei Pole gedacht? Wenn Sozialarbeitende sagen, dass es in der Theorie anders sei als in der Praxis, ist nicht viel mehr das Problem dass die falschen Theorien vermittelt wurden? Ist man mit schlechten Theorien unterwegs werden diese abgespaltet von der Praxis, und die Auffassung der Theorie als ständiger Bildungsvorgang geht verloren. Liegt das Problem der Trennung zwischen Theorie und Praxis nicht bereits in der Konstruktion der Fachhochschulen (begriffliche Umwandlungen in ‚angewandte Wissenschaften’)?

Methoden und Verfahren der Sozialen Arbeit brauchen theoretische Unterfütterung auf der Makro- und Mesoebene, sonst laufen sie Gefahr dass sie sinnentleert werden oder die Professionellen selber manipulierbar und fremdbestimmt werden. Werden bspw. Partizipationsprojekte zwar methodisch korrekt aber ohne das Wissen von Demokratisierungstheorien durchgeführt, kann das zu Begünstigung politisch partikulärer Interessen führen[1]. Die Praxis der Sozialen Arbeit wird nicht nur abhängig von der theoretischen Unterfütterung beeinflusst, relevant ist auch auf welche Theorien gebaut wird (z.B. in der Dienstleistungsorientierung werden betriebswirtschaftliche Theorie übernommen, ohne Reflexion darüber wie passend dies für die Soziale Arbeit ist).

 

Der Begriff der Wertfreiheit in der sozialen Arbeit

Habermas liefert eine spannende Analyse des Begriffs  der ‚Wertfreiheit’. Durch den Positivismus hat sich dieser Begriff etabliert. Er führt zur Abtrennung von Erkenntnis und Interesse, zur Trennung von Tatsachen und Werten was „dem puren Sein ein abstraktes Sollen gegenüberstell[t] (S. 150). Er führt zu der Unterscheidung von deskriptiven und normativen Aussagen. Diese Trennung führt im Feld der Sozialen Arbeit zur Aushöhlung der Profession. Habermas Analyse verhilft zum wachsamen Erkennen bei welchen Methoden und Verfahren mit dieser Wertfreiheit operiert wird die dazu führt, dass die Profession sich zurückzieht und keine Stellung beziehen muss. Die Entwicklung zur wertfreien Profession zeigt sich in der Entpolitisierung der Sozialen Arbeit, was durch Professionalisierungsbestrebungen ersetzt wird.

So sind Begriffe wie Diversität in der sozialräumlichen Arbeit in Spiel gekommen. Doch Diversität ist eine Methode um Ungleichheit zu verwalten. Je nach Modell der Ungleichheitsmessung wird vertikale materielle Ungleichheit eliminiert mit horizontaler Verschiedenheit (vgl. Lagenmodelle, Lebensstilmodelle, Exklusionsmodelle, Schichtungsmodelle). Medial bearbeitet, werden so systematisch Ungleichheitsthemen der Öffentlichkeit vorenthalten oder verzerrte Realitäten aufgezeigt. Hier sind die Professionellen gefordert einerseits diese Analyse zu leisten und sie auch zu kommunizieren.

Objektivität als gesellschaftliche Tatsache

Habermas weist auf „den unkontrollierten Einfluss der tieferliegenden Interessen, die weniger am Individuum als an der objektiven Lage gesellschaftlicher Gruppen hängen“ (S. 160) hin. Welche partikulären Interessen fliessen in die politischen Programme ein, die wir in der Sozialen Arbeit umzusetzen haben? Auf welchen Forschungsprojekten beruhen die abgeleiteten Forderungen? Es geht dabei immer um eine bestimmte Objektivität. Die Soziale Arbeit ist gefordert, die Hintergründe und Zusammenhänge des Zustandekommens von sozialpolitischen Programmen herauszufiltern, um die wahren Absichten zu durchschauen. Nur durch diese Reflexion und den darauf folgenden Widerstand kann die Soziale Arbeit politische Programme ausser Anwendung (nicht ausser Geltung) setzen, nämlich durch das Problematisieren der partikulären Interessen und in der Ausnützung der Handlungsspielräume. Dieses Problematisieren kann Selbstreflexion innerhalb der Profession in Gang setzen, sowie gegenüber Vorgesetzten Aufklärungscharakter haben. Werden diese Sichtweisen von Vorgesetzten oder Auftraggebern aberkannt, muss es von ihnen bewusst geschehen. Diese bewusste Herausforderung ändert die Praxis.

Drei wissenschaftliche Ansätze und ihre Auswirkung auf die Soziale Arbeit

Das Interesse der empirisch-analytischen Wissenschaft ist das erfolgskontrollierte Handeln, die technische Verfügung über vergegenständlichte Prozesse. Die Kritik von Habermas ist, dass die Technik isoliert wird von der Welt, und dadurch die Gesellschaft und das Subjekt rausfallen. Technik hat immer auch einen Aspekt des Nicht-Beherrschens, Instrumentarien sind nie neutral.

Wie weit reduziert sich die Soziale Arbeit auf Methodenarbeit, logische Abläufe und lässt keine Abweichung zu, die aber Bezug nehmen würden auf die lebensweltlich, subjektiven Möglichkeiten des Klienten? Mittels Techniken wie Evidence based practice versucht die Soziale Arbeit das Technologiedefizit aufzuheben.

Das Interesse der historisch hermeneutischen Wissenschaft ist ein Sinnverstehen. Sie hat ein praktisches Erkenntnisinteresse. Habermas Kritik dazu ist, dass das Vorverständnis der Interpreten unterschlagen wird, das im hermeneutischen Wissen immer vorangeht. Es geht um eine Sinnreproduktion. Damit werden Mythen über die Herkunft geschaffen, die zu einer Täuschung führen. Es geht um ein Nicht-Aufklären der Rekonstruktion.

Diese Kritik von Habermas kann die Soziale Arbeit als selbstkritische Frage an sich selber richten: Wie weit richtet sich das Sinnverstehen in seiner Struktur auf einen möglichen Konsens von Handeln im Rahmen des tradierten Selbstverständnisses? (vgl. S. 158).Auf der Ebene des Staates kann etwas Sinn machen, aber auf der Ebene der Profession kann es keinen Sinn mehr machen. Auf unsere Klientel bezogen bedeutet das dass wir uns täuschen können über einen Menschen den wir vor uns haben. Wo kommen diese Menschen vor, wenn wir Professionelle etwas weder logisch ableiten können, noch ein empirisches Gesetz dazu zur Hilfe nehmen können? Habermas Kritik meint, dass Interpretieren und Erkennen auch heissen kann, dass man verkennt was wirklich ist. Die selbstkritische Frage der Professionellen der Soziale Arbeit könnte lauten: wie weit kommt der Klient als Mensch wirklich vor und wo verstecke ich mich hinter scheinbaren Sachzwängen? Handelt es sich tatsächlich um einen Aushandlungsprozess? Wessen Interpretationen sind handlungsleitend?

Das Interesse der kritischen Sozialwissenschaften ist Ideologiekritik, die auf einer Selbstreflexion aufbaut. Daraus ergibt sich ein emanzipatorisches Erkenntnisinteresse. Das Subjekt wird aus einer hypostasierten Gewalt herausgelöst. Was heisst,  dass man zwar die Welt nicht einfach ändern kann, aber dass die Lösung dazu nicht einfach Anpassung an diese Ordnung bedeutet. Wo hat die Soziale Arbeit ihre Schlupflöcher ihre Handlungsspielräume? Wie weit suchen wir Professionelle der Sozialen Arbeit diese Handlungsspielräume überhaupt und  reizen diese voll aus? Was sind versteckte Optionen? Wo lässt man uns glauben, dass es keine gibt? Wie weit internalisieren wir eine Ordnung, die gegen unsere eignen Vorstellung läuft und ertappen uns selber in einem (versteckten) Ressentiment gegen die Klienten?

Reflexion heisst ein Bewusstsein finden zu Tatsachen, was eine Selbstaufklärungsmöglichkeit eröffnet und eine andere Denkform innerhalb einer Organisation zulässt (Baron von Münchhausenprinzip). Ein Gesetz einer Organisation kommt nicht ausser Geltung, aber ausser Anwendung.  Das bedeutet, dass zwar der Regelmechanismus weiter wirkt, aber er bestimmt nicht mehr gleichermassen die Praxis.

Für die Soziale Arbeit heisst das, reale Gewalt von hypostasierter Gewalt zu unterscheiden, keine falsche Vorstellung der eigenen Ohnmacht, und derjenigen der Klienten anzunehmen. Es bedeutet so viel Realität wie möglich herzustellen; den Sinn innerhalb des Arbeitsfeldes zu vertreten und/oder den Sinn zu reproduzieren. Ein Emanzipationsschritt kann sein, die erkannten Lücken im System auszunutzen und gewisse Abläufe zu umgehen. Wo finden sich unverwaltete, unkontrollierte Nischen in unserer Arbeit die wir zugunsten der eigenen Handlungsfreiheit und für unsere Klientel einsetzen können[2]?

 

 

Oktober 2011, KriSo, AG Theorie



[1] Die Analyse von Celine Widmer über die Stadtentwicklungsprojekte der Kreise 4 und 12 in Zürich sind ein gutes Beispiel für die vordergründigen und hintergründigen Interessen welche die Stadtregierung verfolgte. Über die Auswirkungen wird nun Jahre später diskutiert. Widmer, C. (2009). Aufwertung benachteiligter Quartiere im Kontext wettbewerbsorientierter Stadtentwicklungspolitik am Beispiel Zürich. In M. Drilling, & O. Schnur (Hrsg.), Governance der Quartierentwicklung. Theoretische und praktische Zugänge zu neuen Steuerungsformen. (S. 49-67). Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften

[2] Vgl. dazu Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Horkheimer, M. & Adorno, TH. W. (2008 (1944)). (17. Aufl.) Frankfurt a. M.: Fischer Verlag. Die AG Theorie hat dazu ebenfalls eine Zusammenfassung erstellt.