Artikel im SozialAktuell: Und was ist mit den «grossen» Fragen?!

Über kritische Soziale Arbeit, ihr Verhältnis zur Gesellschaft und praktische Perspektiven

Text: Kriso – Zürich, Forum für kritische Soziale Arbeit

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Die Soziale Arbeit gerät in Zeiten der neoliberalen Neuausrichtung
des Sozialstaats zunehmend unter Druck. Das
verlangt nach einer kritischen Positionierung, Organisierungsvorschlägen
und nach der Erarbeitung einer Perspektive.

Ist Soziale Arbeit der Feuerlöscher des kapitalistischen Staates? Für einen Teil der politischen Bewegung und der kritischen Sozialen Arbeit in den 70er-Jahren war die Analyse eindeutig: Soziale Arbeit ist gesellschaftlich integriert, gesteuert und kann somit gar nicht anders, als Herrschaftsverhältnisse durch die Individualisierung von Problemen verdecken, ist also mitschuldig an der Aufrechterhaltung eines ungerechten Gesellschaftssystems.

Tatsächlich werden wir in der Praxis, in der wir es in der Regel mit Individuen und Gruppen zu tun haben, oft mit den Grenzen unserer Arbeit konfrontiert. Die Rationalisierung von sozialen Problemen in Milieus, Zielgruppe und Einzelfällen lässt wenig Spielraum für eine  «grössere» Betrachtung. Im Arbeitsalltag begegnen uns soziale Probleme in individualisierter Form, diese haben aber oftmals strukturelle Ursachen. Wenn gesellschaftliche Ursachen in unserem sozialarbeiterischen Alltag jedoch als zu abstrakt und nicht bearbeitbar erscheinen, äussert sich bei vielen SozialarbeiterInnen eine Unzufriedenheit. Dieser Widerspruch kann zum Ausgangspunkt einer kritischen Reflexion über die Soziale Arbeit und ihre gesellschaftliche Funktion werden.

Gesellschaftliche Reflexion

Soziale Arbeit kann nicht losgelöst von der Gesellschaft gedacht werden, auf die sie sich bezieht. Das gilt für die aktuelle Analyse der Sozialen Arbeit genauso wie für potenzielle Entwürfe einer guten Sozialen Arbeit. Darum sollte die gesellschaftliche Reflexion ihrer Theorien und Methoden ein fundamentaler Bestandteil jeglichen sozialarbeiterischen Handelns sein. Dabei kann eine kritische Gesellschaftstheorie nicht bei oft zitierten Individualisierungsthesen wie z. B. von Ulrich Beck stehen bleiben, fördern doch gerade solche Theorien die Individualisierung von Problemlagen. Die Individualisierungsthese suggeriert, dass die Menschen ihr Leben heute eben individuell und frei gestalten können, dass sie lediglich die scheinbar unendlich vorhandenen Chancen zu nutzen hätten. Die existierende gesellschaftliche Ungleichheit und Ungerechtigkeit wird offensichtlich ausgeblendet. Strukturelle Probleme, Ungleichheiten und die Bedingungen der Sozialen Arbeit müssen auf der Basis einer bürgerlich-kapitalistischen Staatsform reflektiert und erfasst werden.

Verbindendes Element zwischen der kritischen Sozialen Arbeit der 1970er-Jahre und unserem heutigen Verständnis ist die kritische Betrachtung der Gesellschaft und der Sozialen Arbeit aus vielfältigen theoretischen Blickwinkeln. Nur wenn Soziale Arbeit den gesellschaftlichen Verhältnissen nicht im vornherein affirmativ gegenübersteht, kann sie darauf hinarbeiten, sich selbst überflüssig zu machen – das eigentliche gesellschaftspolitische Ziel der Sozialen Arbeit. Wer Soziale Arbeit aus dieser Perspektive analysiert, kommt zum Schluss, dass sie kein einheitliches Gebilde, sondern ein Konstrukt voller Widersprüche und mit vielen Gesichtern ist. Theorien und Praxen der Sozialen Arbeit, die sozialen Problemen repressiv oder normierend begegnen, können darum genauso kritisiert werden wie gesellschaftliche AkteurInnen, die an der Aufrechterhaltung des Status quo interessiert sind.

Öffentlicher Auftrag

Die Strukturen, Organisationen und Aufträge der Sozialen Arbeit unterliegen einer Steuerung durch den Staat. Soziale Arbeit erfolgt im öffentlichen Auftrag und befindet sich so in einem finanziellen Abhängigkeitsverhältnis. Wer sich also z. B. in der eigenen Praxis fragt, wieso etwas Teil des eigenen Aufgabengebiets ist (oder eben genau nicht) oder wieso nicht genügend Mittel für eine soziale Problemlage vorhanden sind, stösst sich an der Steuerung der eigenen Arbeit bzw. den strukturellen Bedingungen der Sozialen Arbeit.

Da die Arbeit mit den vielfältigen individuellen und kollektiven Problemlagen nicht standardisierbar ist, besteht auch immer Handlungsspielraum, in dem SozialarbeiterInnen auf nicht vorgegebenen Pfaden wirken können – Raum also für kritisches Denken und dessen praktische Umsetzung, den wir nutzen sollten. Ausserdem ist auch eine Vernetzung über die Grenzen der eigenen Praxisorganisation hinaus möglich. Diese Räume innerhalb und ausserhalb des Anstellungsverhältnisses versuchen kritische SozialarbeiterInnen zu nutzen und auszudehnen. Damit sollen sowohl sozialarbeiterische wie auch gesellschaftliche Alternativen greifbar werden.

Handlungsebenen kritischer Sozialer Arbeit

Es lassen sich mehrere Handlungsebenen inner- und ausserhalb sozialarbeiterischer Praxis differenzieren. Diese Aufteilung ist notwendig, weil eine gesellschaftliche Perspektive meist den Rahmen von Praxisorganisationen der Sozialen Arbeit sprengt. Andererseits sollen aber auch innerhalb des Anstellungsverhältnisses – im Kleinen – kritische Positionen eingebracht und Veränderungen angestrebt werden. Beide Formen ergänzen sich und sind notwendig. Innerhalb von Organisationen der Sozialen Arbeit existieren unterschiedliche Rahmenbedingungen, die die Möglichkeit zur Kritik und Veränderung massgeblich bestimmen. Dazu gehören z. B. die Tradition der Mitspracherechte der Angestellten, die finanzielle Situation des Trägers, die Leitungs- und die Diskussionskultur im Team. Organisationen von der Basis aus zu verändern, auch nur in begrenztem Masse, ist meist nur im Kollektiv und mit einer längerfristigen Strategie Erfolg versprechend. Eine Organisierung ist jedoch auch innerhalb eines Praxisbetriebs ein wichtiger Ausgangspunkt für Austausch, Reflexion und gemeinsames fachliches Handeln.

Besonders in Bezug auf die eigenen Arbeitsbedingungen ist gewerkschaftliche Vernetzung ein weiteres Handlungsfeld der kritischen Sozialen Arbeit. Gewerkschaften können Basisstrukturen beraten, untereinander vernetzen, Öffentlichkeit schaffen und, besonders in Krisensituationen, auch praktisch unterstützen. Fachliche Zusammenschlüsse bieten ebenfalls die Möglichkeit für Austausch und Öffentlichkeit. Inwiefern fachliche Organisationen eine kritische Gesellschaftsreflexion und -perspektive einbeziehen und anstreben, kann nicht pauschal beantwortet werden. Oftmals fällt bei grossen Berufsverbänden leider die inhaltliche, kritische Positionierung zugunsten der Repräsentativität weg. Oder die Selbstzensur erfolgt aus politischen Überlegungen aufgrund von Sachzwängen. Schliesslich sind auch soziale Bewegungen eine Handlungsebene kritischer Sozialer Arbeit. Sie bieten den Rahmen, um gesellschaftliche mit praktischen Themen zu verbinden und Öffentlichkeit zu schaffen. Gesellschaftliche Veränderung im Sinne der kritischen Sozialen Arbeit ist insbesondere auf dieser Ebene denk- und praktizierbar.


Das Modell Kriso

Kritische Theorie und praktische Auseinandersetzung

Das Forum für kritische Soziale Arbeit ist eine Möglichkeit zur praktischen Umsetzung einer kritischen Haltung. Die Kriso sieht sich als fachliche Organisation, sucht jedoch auch die Anknüpfung an soziale Bewegungen. Als Basisstruktur lebt sie von der Initiative ihrer Mitglieder. Die Kriso steht allen Sozialarbeitenden offen, die sich kritisch mit der Sozialen Arbeit und ihren Bedingungen befassen möchten. Es gibt keine formelle Mitgliedschaft. In der Regel sind die Treffen und Veranstaltungen der Kriso öffentlich. Aus konkreten Entwicklungen in der Gesellschaft und der Sozialen Arbeit werden Themen aufgenommen, analysiert und praktisch bearbeitet. Die Kriso schafft es, verschiedene theoretische Hintergründe miteinander zu vereinen, indem sie die Pluralität ihrer Mitglieder akzeptiert und den Fokus auf die Handlungsfähigkeit und die kritische Praxis als Organisation legt. Auch die Selbstklärung und Selbstdefinition findet anhand der gemeinsamen Praxis statt und entwickelt sich ständig weiter. Die praktischen Fragestellungen, Entwicklungen und Handlungen sind somit Dreh- und Angelpunkt der Organisation. So verhindern wir, dass wir bei der Analyse der Gesellschaft stehenbleiben oder uns aufgrund theoretischer Differenzen spalten. Die Kriso findet fernab vom Handlungsdruck des Praxisalltags statt. Sie ermöglicht eine arbeitsfeldübergreifende Auseinandersetzung unter Sozialarbeitenden. Zugleich können in Arbeitsgruppen auch fachliche Themen diskutiert und bearbeitet werden, die ein spezifisches Arbeitsfeld betreffen. Für eine Arbeit mit Menschen, die von sozialen Problemen betroffen sind, ist eine (kritische) Weiterentwicklung unserer Praxis unabdingbar. Dies verlangt nach permanenter Reflexion gesellschaftlicher Bedingungen, fachlicher Theorien und Methoden. Wir glauben, mit diesem Organisationskonzept eine Möglichkeit gefunden zu haben, uns auch in Zeiten mit wenig «Bewegung» zu engagieren, als kritische Menschen handlungsfähig zu sein und aktiv auf einen Wandel in der Sozialen Arbeit und der Gesellschaft hinzuarbeiten.


Stellungnahme der Redaktion

Wie steht es um die Praxis der kritischen Sozialen Arbeit?

Ein kleiner Unterschied kennzeichnet den Beitrag auf dieser Doppelseite im Vergleich zu jedem anderen in diesem Heft. Ausnahmsweise steht hinter einem Beitrag kein Autor, keine Autorin, sondern eine Organisation, vergeblich sucht man ein Gesicht dazu. Das ist in SozialAktuell nicht die Regel. Warum nun diese Ausnahme? Wenn ein Text mit einem Namen gezeichnet ist, hat das etwas mit Verantwortung zu tun. Verantwortung einer Redaktion oder eines Autors für Inhalte. Kann man daraus einfach den Umkehrschluss ziehen, dass eine fehlende Autorenangabe bedeutet, dass man sich aus der Verantwortung stiehlt? So einfach kann es kaum sein. Tatsache ist, die Kriso ist an uns gelangt mit der Bitte, ihren Beitrag mit dem Namen der Organisation zu zeichnen statt mit einzelnen Personen. Die spontane Reaktion auf der Redaktion war: Das machen wir nicht. Die Beweggründe des Kollektivs waren aus journalistischer Sicht vorerst nicht nachvollziehbar. Wir teilten dies der Kriso so mit. Über 6000 Zeichen lang war die darauf folgende Stellungnahme der beteiligten Autorenschaft. Da muss also schon etwas mehr dahinterstecken. Hier ein Auszug: «Es handelt sich um einen Artikel über die Praxis kritischer Sozialer Arbeit. Als Angestellte, die sich kritisch zu laufenden Prozessen äussern, gehen wir immer auch ein Risiko ein. Kritik schmälert potentiell unsere Chancen bei Bewerbungen und erzeugt ganz konkret am Arbeitsplatz Druck auf uns. […] Die reale Situation in einigen Institutionen des sozialen Bereichs bietet leider oft nicht die Möglichkeit einer offenen fachlichen Diskussion ohne implizite Gefahr von Repressalien. […] Wenn SozialAktuell interessiert ist an einer Auseinandersetzung über kritische Soziale Arbeit, dann sollte auch eine Offenheit gegenüber den Folgen und Bedingungen von kritischer Sozialer Arbeit gepflegt werden. Nur so kann eine offene und ehrliche Debatte gewährleistet werden.» Das Schreiben hat uns nachdenklich gestimmt und die eine oder andere Frage ausgelöst. Wie in der Sozialen Arbeit gibt es auch im Journalismus berufsethische Normen. Unter anderem erfordern diese, schützenswerte Interessen (Privatsphäre, Quellenschutz) zu wahren. Denken Sie etwa an Whistleblower – Personen, die Missstände aufdecken und entsprechende Stellen informieren. Doch warum und wann ist jemand schützenswert? Wenn Informanten sich oder anderen Schaden zufügen können mit der Veröffentlichung ihrer Informationen, dann müssen Interessen abgewogen werden – öffentliche versus private. Dazu existiert kein allgemeingültiges Rezept, es muss von Fall zu Fall geprüft werden. Wir fragen uns, und wir fragen Sie: Wie hätten Sie entschieden im vorliegenden Fall? Ist es im Alltag der Sozialen Arbeit tatsächlich nicht möglich, seine Meinung frei zu äussern, ohne mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen? Ist unsere Fachzeitschrift zu wenig kritisch? Liebe Leserinnen, liebe Leser, an dieser Stelle fordern wir Sie dazu auf, Ihre Erfahrungen mit uns zu teilen. Wie steht es wirklich in der Praxis? Wir freuen uns über Zuschriften an redaktion@sozialaktuell.ch.

Christa Boesinger, Redaktionsleiterin SozialAktuell